Das Weisse Ross in Dinkelsbühl
Die ehemalige Reichsstadt Dinkelsbühl rühmt sich zu Recht, ein Kulturdenkmal von europäischem Rang zu sein. Dank ihres reichen Bestandes an Einzelbaudenkmälern hat die Stadt eine weit über Bayern und Deutschland hinaus reichende kulturelle Bedeutung. Und auch in der Geschichte des Denkmalschutzes spielt Dinkelsbühl eine wichtige Rolle: Der Erlass des jungen Königs Ludwig I. im Jahr 1826, der im letzten Moment den Abbruch der historischen Stadtmauer mit all ihren Toren und Türmen verhinderte, gilt als Geburtsstunde der staatlichen Denkmalpflege in Bayern.
Es sollte jedoch noch über ein halbes Jahrhundert dauern, bis das altehrwürdige Städtchen, das nach dem Dreißigjährigen Krieg in einen regelrechten Dornröschenschlaf gefallen war, als pittoreskes Mittelalter-Idyll wiederentdeckt wurde. Im Frühling 1888 waren drei Malerfreunde aus München bei einer Radtour durch Franken zufällig auf Dinkelsbühl gestoßen. Zurückgekehrt nach München konnten sie ihre Künstlerfreunde vom Mittagsstammtisch im Deutschen Haus am Lenbachplatz mit ihrer schwärmerischen Begeisterung sofort anstecken: Schon im Sommer des nächsten Jahres brach eine zwölfköpfige Gruppe von passionierten Landschaftsmalern nach Dinkelsbühl auf. Bereits bei ihrem ersten Aufenthalt nahmen sie im Weißen Ross am Schweinemarkt Quartier, wie das umgehend angelegte Gästebuch eindrucksvoll dokumentiert – das mit zahllosen Künstlereinträgen bis 1915 weitergeführte und kultur- geschichtlich sehr aufschlussreiche Buch liegt mittlerweile im Stadtmuseum.
Das Gasthaus zum Weissen Ross steht markant an der Einmündung der den Wein- mit dem Schweinemarkt verbindenden Steingasse. Der zweigeschossige, verputzte Eckbau mit steil aufragendem Satteldach ist mit seiner schmalen Giebelseite zum Platz hin ausgerichtet. Regelmäßig gesetzte Kreuzstockfenster und deren Brettläden prägen das äußere Erscheinungsbild. Die bayerische Denkmalliste datiert das Gebäude auf die Zeit um 1600, bereits damals wurde es als Gasthaus betrieben. Über der Gasthaustür hängt, als deutlicher Hinweis auf die Funktion als Künstlerherberge, ein großformatiges Ölgemälde: Vor dem Hintergrund der Dinkelsbühler Stadtsilhouette hantieren zwei Putti mit einem Rundschild, auf das ein elegantes weißes Ross aufgemalt ist; eines der beiden Knaben – es prostet mit einem leer getrunkenen Weinglas einem Raben zu – scheint sich bereits abstützen zu müssen. Ausgeführt wurde das mit 1889 datierte Gemälde von den hier wohnhaften Künstlern. Unter ihnen der aus Salzburg gebürtige Fritz Hegenbart, der später für zwei Jahre seinen festen Wohnsitz nach Dinkelsbühl verlegen sollte.
In der Gaststube hat sich seit damals, als die ersten Künstler darin Platz genommen hatten, nahezu nichts verändert. Mitten im Raum steht ein dekorativ geschnitzter Holzpfeiler, der den kräftigen Unterzug der Decke stützt. Zur charakteristischen Ausstattung gehören eine dunkel gebeizte und die Fensternischen elegant mit einbeziehende Lambris, eine umlaufende Sitzbank und in die Wand eingelassene Schränkchen – letztere, wie auch die durch ihre Patina überzeugende Gaststubentüre, noch mit den Originalbeschlägen. Das wohl noch aus der Jahrhundertwende stammende Mobiliar sowie eine fast raumhohe, den Stil der Gaststube aufgreifende Standuhr mit dekorativ bemaltem Ziffernblatt ergänzen den Raum vortrefflich und verleihen ihm eine geradezu zeitlose Gemütlichkeit; insbesondere im Zusammenspiel mit den die Wände schmückenden Gemälden der einst hier verkehrenden Maler, unter ihnen eine 1910 gemalte und mit »Am Ferkelmarkt« betitelte Darstellung des Weißen Rosses sowie das Porträt eines ehemaligen Hausknechts des Gasthofs, vermittelt die Gaststube noch heute recht anschaulich das Bild einer Künstlerherberge der Jahrhundertwende.
Das Weisse Ross in Dinkelsbühl
Auch wer sich für längere Zeit (oder nur eine Nacht) in Dinkelsbühl einquartieren möchte, ist im Weissen Ross genau richtig. Zwar wird nicht mehr im Gasthaus selber übernachtet, aber seit 1988 steht hierfür die zugehörige ehemalige Scheune direkt gegenüber zur Verfügung. Als stattlicher Satteldachbau mit freiliegendem Fachwerkobergeschoss – hier befanden sich ehemals die Gesindewohnungen – fügt sich das in der Zeit um 1700 errichtete Haus wunderbar in das malerische Gesamtbild aus Kopfsteinpflaster, enge Gasse, weiter Platz und Gasthaus ein.
Die Wirtsleute Anke und Joachim Neuhäuser führen das Weisse Ross bereits in dritter Generation auf vorbildliche Weise. Auf eine feine, ausschließlich auf regionalen Produkten basierende Küche legen sie größten Wert, der Erhalt der einzigartigen Atmosphäre als Künstlerherberge des 19. Jahrhunderts ist ihnen hierbei eine Herzensangelegenheit. Schon ein Stadtführer aus dem Jahr 1912 charakterisiert das Weiße Ross als die »von jeher gemütliche Herberge der zahlreichen die Stadt besuchenden Maler und Künstler«. Daran hat sich bis heute auf sympathische Art und Weise nichts geändert. Gerade erst war wieder eine kleine russische Künstlerkolonie aus Moskau und St. Petersburg zu einem achtwöchigen Maleraufenthalt in Dinkelsbühl. Ihr Quartier: Das Weisse Ross am Schweinemarkt.
Autor: Dr. Karl Gattinger ist Referent für die Denkmalliste in Mittelfranken am Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege. Durch seine federführende Mitarbeit bei der legendären Reihe »Genuss mit Geschichte« hat er einen profunden Überblick über die denkmalgeschützten Wirtshäuser in ganz Bayern.